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Ein Leben zu Hause war für mich unvorstellbar

Ich bin Amar, mit 18 Jahren kam ich nach Deutschland ohne ein deutsches Wort zu können oder gar die Sprache zu verstehen. Mit 19 Jahren wurde ich dann Mutter. Bereits in der 20. Schwangerschaftswoche wurde mir mitgeteilt, dass mein Kind an einem hypoplastischen Linksherz (HLHS) erkrankt ist. Damals war ich sehr froh, dass ich über gute Englischkenntnisse verfüge, so dass ich die Ärzte und deren Erläuterungen verstanden habe. Mir wurden die Möglichkeiten eines späten Schwangerschaftsabbruchs, mein Kind nach der Entbindung versterben zu lassen oder eben eine umfangreiche medizinische Behandlung nach der Entbindung aufgezeigt. Für welche ich mich auch entschieden habe.

Ich habe mein Kind gespürt, wie es sich in meinem Bauch bewegt, mich die kleinen Füße und Hände in meinem Bauch immer wieder anstupsten und mir sagten „Hallo hier bin ich“. Fernab meiner muslimischen Kultur, war alles andere völlig unrealistisch, als dass mein Kind nicht leben sollte. Welche Tragweite und Konsequenzen die damalige Entscheidung für mich und mein Kind bedeuteten, war mir jedoch noch nicht bewusst.

Direkt nach der Entbindung kam mein Sohn Nadir auf die Intensivstation. Der Name Nadir bedeutet der Wertvolle und der Einzigartige. So erwies sich auch sein Herzfehler als ein sehr komplexes HLHS. Bereits am 1. Tag nach der Entbindung wurde er das erste Mal operiert. Neben mehreren Herzkathetereingriffen, wurde Nadir innerhalb der ersten 5 Lebensmonate bereits zwei Mal am offenen Herzen operiert. Da die Sauerstoffversorgung nicht aufrechterhalten werden konnte und das Herz nicht genügend arbeitete, war auch eine ECMO Therapie notwendig. Häufig wurde ich mit der Endgültigkeit und dem Tod meines Kindes konfrontiert.

So lebte ich nun mit einem lebensbedrohlich erkranktem Kind und meinen Ängsten auf einer Intensivstation in einem mir fremden Land. Durch die enorme Belastung zerbrach die Beziehung zum Kindsvater, auch die Einschränkungen in der Corona-Pandemie machten mir kaum Kontakte in die Außenwelt möglich. In dieser Zeit war ich meist sehr traurig und habe viel geweint. Einige Male hat es mir gar die Luft zum Atmen genommen und ich war nicht dazu im Stande, einen Ton zu sagen.

Mein Sohn kämpfte um sein Leben, also wollte ich auch stark sein und kämpfen. So lernte ich in der Klinik die deutsche Sprache und fühlte mich besser. Nadirs gesundheitlicher Zustand stabilisierte sich auch zunehmend, so konnten wir nach 6 ½ Monaten intensivmedizinscher Versorgung die Klinik verlassen.

Angekommen im Haus Atemzeit fühlte sich alles so normal an und dennoch war ich genau deswegen beunruhigt. Weg von den Apparaten der Klinik, nur der Kinderarzt und die kardiologische Ambulanz sollten die medizinische Versorgung regeln. Nach dieser intensiven Zeit konnte ich mir das nicht vorstellen. Ich habe eine Weile gebraucht, um mich einzuleben. Zu verstehen, dass ich jetzt auch verantwortlich für die medizinische Versorgung meines Kindes bin.

Ein Leben zu Hause – das Leben alleine zu Hause – für mich nicht vorstellbar.

In diesen 6 Monaten im Haus Atemzeit habe ich sehr viel gelernt, über mein Kind, das Krankheitsbild und seine Symptome, die Therapiemöglichkeiten und die Grenzen der Möglichkeiten, etwas für mein Kind zu tun. Auch war es mir möglich, eine kurze Auszeit zu nehmen und meine Familie in Frankreich zu besuchen, die ich über ein Jahr nicht mehr gesehen hatte.

In den ersten Monaten stabilisierte sich Nadir weiter, er war nicht mehr so schnell gestresst und lernte neue Bewegungsmuster. Bis zum Frühjahr: zunächst stagnierte seine Entwicklung, dann benötigte er immer mehr Sauerstoff und seine Bewegungen wurden immer träger. Es war ein schleichender Prozess, in dem ich sah, wie mein Kind an vielen lieb gewonnen Dingen die Freude verlor und ich die Zeichen der voranschreitenden Erkrankung wahrnahm. Wieder wurde ich mit der Endgültigkeit konfrontiert, ein dunkler Schatten zog sich wieder über uns. Ein Marathon zwischen Klinik, Kinderarzt und dem Haus Atemzeit begann und wieder kämpften wir für ein gemeinsames Leben.

Eine erneute Herzkatheteruntersuchung und längere Klinikaufenthalte brachten dann die Klärung. Es hatten sich mehrere Thromben an den sauerstoffführenden Gefäßen gebildet. Diese schränken den Blutfluss so stark ein, dass es zu einem Rückstau vor dem Herzen kam. Nach dem Eingriff erholte sich Nadir langsam, auf den Sauerstoff jedoch ist er bis heute angewiesen.

Dann kam der große Tag: wir durften nach Hause, ich dachte ich träume. Nach 15 Monaten – ich habe mich riesig gefreut und hatte zugleich großen Respekt.

Im Haus Atemzeit habe ich mich immer sicher und gut aufgehoben gefühlt. Das Gefühl jemanden an meiner Seite zu haben, der mir behutsam in die Selbstständigkeit hilft, war unbezahlbar für mich. Für die Chance die notwendige Zeit gehabt zu haben, mich entwickeln zu dürfen, bin ich sehr dankbar.

Heute lebe ich in meinen eigenen vier Wänden. Tags wie nachts wache ich über mein Kind, den Sauerstoff und die Sättigung. Ein Pflegedienst kommt zwei Mal in der Woche für 6 Stunden. Dieser macht es mir möglich die Wohnung zu verlassen, in Ruhe zu duschen oder einfach nur zu schlafen. Durch den hohen Sauerstoffverbrauch und die Treppen, die ich überwinden muss, um in meine Wohnung zu gelangen, ist es mir kaum möglich, die Wohnung mit Nadir zu verlassen oder gar Einkäufe mit ihm zu erledigen.

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir uns freier bewegen können, ohne Sauerstoff und dass wir meine Familie in Frankreich besuchen können.

Nadir hat aufgrund seiner schweren Herzerkrankung, seine letzte Reise über die Regenbogenbrücke zu den Sternenkindern angetreten. Wir sind traurig und erschüttert über diese Nachricht.